Lissos

Ich weiß – es grenzt an Dekadenz, sich so viel Kleidung auf Reisen mitzunehmen, dass du jederzeit den Kasten in deinem Zimmer öffnen und dich nach Lust, Laune, Farbkombination oder bevorstehender Situation einkleiden kannst. Und ich gebe auch gerne zu, dass die insgesamt 65 Kilogramm Zuladung an Gepäck auf der Libelle keineswegs alle notwendig waren. Worauf ich aber zu Hause beim Einpacken auf keinen Fall verzichtet hätte, waren meine Wanderschuhe. Nicht, dass ich ein begnadeter Wandersmann wäre, nein, für genau diese eine Wanderung nach Lissos habe ich sie mitgenommen. Ein Fixpunkt meiner Reise. Der einzige.

Zwei Themen hat diese Wanderung für mich. Wer mich ein wenig besser kennt, weiß, dass ich mit der Gabe gesegnet bin, Schmerzen, Unwohlsein, Fieber und einige andere körperliche Zustände von Menschen zu nehmen. Das hat mir in frühen Jahren Angst gemacht, weil ich dadurch jedes Mal selber krank wurde. Heute, nach jahrelanger intensiver Beschäftigung damit und Übung darin, bin ich einfach demütig und zutiefst dankbar für dieses Geschenk. Diese Wanderung soll mir Klarheit verschaffen, ob ich mit diesem Thema auf dem richtigen Weg bin. Das zweite Thema ist mein Herz. Du hast es vielleicht mitbekommen, dass ich im vergangenen Jahr von Juni bis Oktober komplett außer Gefecht war, weil mein Herz seinen Sinus-Rhythmus verloren, seinen Ruhepuls nahezu verdreifacht und mich dadurch so gut wie aktions-unfähig gemacht hatte. Die starken Medikamente und fast die gesamte Liste ihrer Nebenwirkungen dazu hatten mich ein wahrhaftiges Schattendasein führen lassen. Die Lösung war letztendlich „Herz ausschalten – Herz einschalten“ auf der Intensivstation im Krankenhaus Sankt Pölten, was mich wieder um eine spannende Erfahrung in meinem Leben reicher gemacht hat. Trotz äußerst positiven Leistungstests begleitet mich seither trotzdem ein kleiner Schatten, ob dies vielleicht wieder passieren kann. Diese Wanderung soll mir Klarheit verschaffen, ob mein Herz tatsächlich – medizinisch gesehen – vollkommen gesund ist.

Aus diesem Grund schließe ich mich mit Asklepios kurz und wir machen uns aus, einander bei seinem ehemaligen Tempel in Lissos zu treffen. Cool – ein Meeting mit Asklepios! Du kennst ihn noch nicht? Asklepios ist in der griechischen und römischen Mythologie der Begründer und Gott der Heilkunst. Die Schlange, die sich in den meisten Darstellungen um den Äskulapstab windet, weist ihn den chthonischen oder Erdgottheiten zu. Also los! Gegen Mittag starte ich mit meinem Badetuch und jeder Menge Wasser Richtung Hafen von Sougia, um dort den Einstieg zum Aufstieg zu finden.

Über ein paar Felsen geklettert und rein in die kleine Schlucht – immer bergauf, denn der Weg führt den Berg hinauf, über ein großes Hochplateau und auf der anderen Seite wieder steil hinab nach Lissos, der antiken Stadt. Typisch für mich – die angekündigten 90 Minuten Wanderung sind für mich nicht mal ein Richtwert. Stehenbleiben, staunen, riechen, angreifen, schmecken, fotografieren… sie spielt wieder mal keine Rolle, die Zeit.

Die unendliche Vielfalt an Licht- & Schattenspielen, der unglaubliche Duft, der in der Luft liegt und sich ebenso ständig verändert wie die wilde Schönheit dieses Teils der Schöpfung… es ist wirklich schwierig für mich, gleichzeitig auch noch auf den Boden zu schauen, um zu sehen, wo ich hinsteige. Die mittlerweile unerträgliche Hitze merke ich nur, weil ich oft stehen bleibe, um zu trinken. Und dann, nach etwa einer Stunde während des Anstiegs durch den aufgelockerten Pinienwald, passiert DAS! Ein Schritt und ein vielnadeliges oder langstacheliges Etwas fährt mir von oben durch die Haare, direkt auf meine Kopfhaut und zieht sich in der Vorwärtsbewegung meines Schrittes in alle Richtungen – zur Stirn, zu beiden Ohren und den Hinterkopf hinunter, um sich sofort wieder nach oben hin zu entfernen. Früher wäre ich wahrscheinlich erschrocken. Während ich mich umdrehe, durchläuft mich ein Schauer von den Haarspitzen durch meinen Kopf bis über die Schultern… dieses Gefühl kenne ich doch! Von diesen Kopfmassagegeräten aus einem (zumeist) Holzgriff und gebogenen Metallstäben. Und ich bekomme das hier und jetzt und so überraschend von diesem tief herabhängenden Pinienast. Ich muss schmunzeln, lächle ihn an, bedanke mich in unserer gemeinsamen Sprache und wandere weiter steil bergauf, um das Hochplateau zu erreichen. Dieser Weg kehrt mein Inneres ins Außen. Gefühle, Schwingungen, meine Verbundenheit mit diesem offensichtlich unberührten Teil der Natur und… ja, auch meine Lunge, die mich an meine bisher gerauchten Zigaretten erinnert. Aber jetzt – das Hochplateau ist erreicht und die nächste Etappe eröffnet mir und meinen Sinnen wieder gänzlich neue Perspektiven.

Am anderen Ende des Plateaus dann endlich das Ziel vor Augen – allerdings noch nicht vor der Nase. Dazu gibt es noch einen Abstieg, der zwar für Menschen markiert, allerdings eher für Ziegen geeignet ist. Gleich nach diesem Level an Steilheit kommt wahrscheinlich der freie Fall…

Wie es manchmal bei Terminen oder Dates vorkommt, ist der Ort des Treffens gar nicht so leicht zu finden. Andererseits – wie oft kommt es im Leben vor, dass du die Möglichkeit hast, dich auf spiritueller Basis mit einer „Originalgottheit“ zu verbinden!? Noch dazu bei einem ehemaligen Tempel und ohne Rummel und Touristen. Da suche ich gerne ohne GPS- oder Internetempfang, bis ich den Treffpunkt gefunden habe. Ein paar Schluck Wasser und an einem Schattenplatz in mir selbst zur Ruhe kommen und mich durch meine persönlichen Themen mit der Energie dieses tollen Ortes verbinden…

…es ist eigenartig. Dieses Gefühl, dass es tatsächlich ein „Termin“ ist und ich mich wahrhaftig – um es in Bildern auszudrücken – eine kurze Zeit lang in einem Raum der Heilung und der Gesundheit wiederfinde. Asklepios drückt mir ein kleines Köfferchen in die linke Hand, nickt mir zu und verschwindet wieder. Ein kurzer Augenblick. Ich finde mich an meinem Schattenplatz beim Tempel des Asklepios wieder, die Wasserflasche in der Hand, glaube, dass jetzt einfach nur diese magische Verbindung unterbrochen wurde und versuche, mich wieder in diese Bilder des Gefühls zu transportieren. Es gelingt mir nicht und deshalb spüre ich diesen Moment der Verbindung nach und versuche, das Erlebte zu verstehen. Gut, okay – ich habe als Geschenk Hilfsmittel zur Verfügung bekommen, an die ich bisher nicht dachte, wenn ich mit Menschen zu tun habe. Das erfüllt mich mit unendlich großer Dankbarkeit, weil ich das Gefühl habe, nun noch liebevoller und noch hilfreicher sein zu dürfen. Aber was ist mit meinem irdischen Dasein, meinem Herzen, meinem zweiten wichtigen Thema? Ist es ganz gesund? Hält es meine Abenteuer und meine „Herzstillstand-Aktionen“ aus? Soll ich mir Sorgen machen? …oder ist alles gut? Diese und noch mehr Gedanken begleiten mich nun Richtung Meer, an den kleinen Strand von Lissos. Der Weg dorthin lässt mich wieder einmal staunen. Alte Olivenbäume stehen zwischen hohen, grünen Sträuchern und dazwischen immer wieder riesige Oleandersträuche, die in ihrem Wildwuchs links und rechts den Weg säumen, bis kurz vor den Strand.

Eine erfrischende Runde Schwimmen im angenehm warmen, karibikblauen Meer, ein paar Fotos und jede Menge Gefühl für mein wunderbares Sein später mache ich mich wieder auf den Weg zurück – heim nach Sougia.

Es ist 16:30 am Nachmittag und die Hitze des Tages erreicht nun langsam ihren Höhepunkt. Beim Hochklettern Richtung Hochplateau bleibe ich immer wieder stehen, um mich mit einem Schluck Wasser zu belohnen. Auf halbem Wege aufwärts begegne ich einem jungen Paar, welches gerade erst auf dem Weg nach Lissos ist. Sie sind beide schon so erschöpft, dass sie sogar wieder umdrehen wollen. Im Schweiße meines Angesichts – in seiner wahrsten Bedeutung – locke ich wieder ihre Motivation für diese Wanderung an die Oberfläche. Auch sie wollen sich an diesem mystischen Ort in seinen Bann ziehen lassen. Mit voller Freude und in Dankbarkeit setzen sie ihren Weg genauso fort wie ich – sie hinunter nach Lissos und ich hinauf Richtung Sougia. Ich bin so erfreut von dieser positiven Begegnung, dass ich erst oben am Hochplateau merke, wie schnell und ohne stehen zu bleiben ich den Rest des Kletterweges hinauf geeilt bin. Die Müdigkeit in meinen Beinen ist verflogen und den seltenen Markierungen folgend laufe ich nun wesentlich befreiter weiter und spüre, wie sehr es mir Spaß macht, von Stein zu Stein und über die Wurzeln der niedrigen Steppenbüsche zu springen. Unerwartet schnell erreiche ich den Pinienwald, der mich wieder bergab führt. Und obwohl ich tatsächlich noch immer laufe, erkenne ich im Vorbeieilen sofort den Pinienzweig wieder, der mich mit dieser überraschenden Kopfmassage überrascht hatte. Schmunzelnd bleibe ich stehen, trinke einen Schluck, lächle ihm zu und laufe weiter bergab. In der engen Schlucht angekommen, durch die ich den Rest des Weges bis zum Hafen von Sougia laufe, habe ich noch immer diesen starken Antrieb, der mich bis zum Ende nur noch zwei Mal stehen bleiben lässt. Ein Mal, weil ich die beim Hinweg bewusst vermissten vielen Eidechsen bemerke – sie haben mich sicher erhört, sie sehen zu dürfen. Und ein zweites Mal, als ich eine junge Ziege bitterlich weinen höre, die offensichtlich in der Wand der Schlucht weder vor noch zurück kann und nach ihrer Mutter ruft. Ich suche sie, kann sie aber in dem Dickicht, das sich den Felshang hinauf zieht, leider nicht finden. Ein letzter Sprung vom Felsen des Eingangs der Schlucht und ich stehe wieder vor dem Hafen von Sougia. Jetzt trinke ich die letzten Tropfen aus meiner Wasserflasche von dem zwar mittlerweile warmen, aber köstlichen Quellwasser von Lissos. Es ist 17:12. Was? Wie spät? Siebzehn Uhr und zwölf Minuten. Ich sehe noch zwei Mal auf die Uhr. Eine Wanderung von „normal“ 90 Minuten in 42 Minuten gemacht. Während ich fast ungläubig über diese Zeit reflektiere, gehe ich nach Sougia weiter, setze mich, bevor ich zu Hause bin, im Omikron, meinem Lieblingsrestaurant, an einen Tisch beim Strand und trinke erstmal ein großes, kühles Glas frischgepressten Orangensaft. Seit der Sache mit meinem Herzen im vergangenen Jahr trage ich ein Fitnessarmband, um (un)regelmäßig meinen Puls und andere Daten auszuwerten. Ich sehe jetzt nach und kann es wieder einmal gar nicht glauben: der höchste Pulsschlag in der vergangenen Stunde war für knapp 1 Minute 122 Schläge meines Herzens pro Minute. Angeliki, die Frau des Restaurantbesitzers und Freundes Jean-Luc, fragt mich, was denn mit mir los sei. Ich muss wohl gerade ein sehr merkwürdiges Gesicht gemacht haben… Ich erzähle ihr von meinem Herzen, meinem heutigen Ausflug nach Lissos und meiner rekordverdächtigen Zeit des Rückweges UND – nicht zu vergessen, von der Auswertung meiner Herzfrequenz dabei. Sie strahlt mich an, lacht, umarmt mich und sagt: „Now you know for sure!“ („Jetzt weißt du es sicher!“). Ich sitze nur da und nicke. Ich nicke weiter und noch immer, als sie längst schon wieder weg ist, weil ich genau in diesem Moment verstehe, warum ich von Asklepios keine Antwort auf die Frage nach der Gesundheit meines Herzens bekommen habe und weshalb ich plötzlich diesen Drang nach „Laufen“ und dabei noch so große Freude hatte.

Ich liebe es. Dieses Leben…!!!

3 Replies to “Lissos”

  1. Heute bin ich zufällig auf deinen Blog gestoßen. Ein wirklich schöner Bericht… Mit Tiefgang, was so selten geworden ist. Bin nun neugierig geworden, auf andere Geschichten und Gedanken. Danke das ich teilhaben durfte. Lg Gabriela

    1. Liebe Gabriela! Ich freue mich sehr, dass du mit mir eintauchen konntest in dieses Erlebnis! Viel Freude mit anderen, weiteren Begebenheiten, Gefühlen und Gedanken! Alles Liebe!

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